Küss mich wie im Film

Was ich in der Schulzeit gern über das Küssen gewusst hätte

von Angelika Glitz

Foto von Viktoria Slowikowska von Pexels

In der Nacht vom 17. auf den 18. September 1985 stand mein früheres “Ich” in der Disse — wie Clubs damals hießen — und wartete darauf, geküsst zu werden. Von wem? Von dem Jungen schräg vor mir, der an dem Hals einer Colaflasche saugte. Wieso konnte ich nicht diese Colaflasche sein? Wieso kam er nicht zu mir und küsste mich einfach. War der Pickel auf meiner Wange schuld? Hatte er sich durch die Clerasil-Abdeckpaste gerobbt? Ich stand unter der funkelnden Diskokugel, wie unter einem Mistelzweig, knibbelte am Wachs der Kerze herum und schielte neidisch zu Petra. An Petras Mund klebte schon seit zwei Stunden ein süßer Junge. Überhaupt schien, Petras Mund ein Magnet zu sein, der Jungs anzog als wären sie Büroklammern.

In dieser Nacht vertraute ich meinem Tagebuch im Schein der Taschenlampe folgende Zeilen an:

„Wieso küsst mich Martin einfach nicht. Wie bringe ich ihn nur dazu? Gibt es eine Zauberformel, die ich nicht kenne? Wie überwinde ich den Graben zwischen „wir reden“ und “wir küssen“? Petra zum Beispiel, ist ja — ehrlich — auch nicht hübscher als ich und ihre Klamotten könnte meine Mutter tragen, ich sag nur Perlenkette. Aber die knutscht auf jeder Party mit jemand anderem herum. Wie macht sie das? Wenn ich sie danach frage, antwortet sie: „Keine Ahnung, es passiert einfach.“ Wie kann so etwas einfach passieren?

Damals hing über meinem Bett ein Poster mit einem Frosch. Auf dem Kopf trug er eine Krone. Unter seinen Füßen stand in rosa Buchstaben:

„Man muss viele Frösche küssen, bevor man seinen Prinzen findet“

Dieser Satz war damals mein Wegweiser, Feminismus nur ein ferner Ruf und Karriere überbewertet. Mein Lebenstraum war es, weder Bundeskanzlerin zu werden, noch das Weltklima zu retten oder an der ersten Mars-Expedition teilzunehmen. Nein, ich wollte nur meinen Prinzen finden. Meine große, für immer selig machende Liebe. Meinen Prinzen, der mit mir in den Sonnenuntergang reitet, — und das meinetwegen auch auf einer methanpupsenden Kuh. Ja, so verkorkst war ich damals.

Mein größtes Problem: wie sollte ich jemals viele Frösche küssen, wenn ich schon an Frosch Nummer Eins scheiterte? Doch dazu später. Vorab ein kleiner Ausflug in die Amphibienkunde.

Meine Freundin teilte meinen Lebenstraum mit Prinz und Happy End und so. Und um ihn zu verwirklichen, teilten wir die Jungs in Gruppen.

Frösche nannten wir Jungs, die man sich vorstellen konnte zu küssen, weil sie einfach sooo süß waren. Herzfröschewaren Jungs, die sooo süß waren und auch charakterlich hielten, was ihr dekoratives Äußere versprach. Man war in sie verknallt oder schwärmte wenigstens für sie. Als Kröten bezeichneten wir Jungs, die wir niemals küssen wollten. Dafür entpuppen sie sich manchmal als Freunde fürs Leben. Aber das ist ein anderes Kapitel (Gefriendzoned — Abstellgleis oder Lottogewinn?) Und schließlich der Prinz. Das war der zum „In-den-Sonnenuntergang-Reiten“, nur zu ermitteln durch  — klar — Küssen.

Die Strategie um endlich mal zu küssen — natürlich nur einen Frosch, da waren ich anspruchsvoll — bestand aus Warten. Warten, dass ER MICH KÜSST, wobei ich aufpasste, dass er jaaaaaaa auf gaaaaaar keinen Faaaaall auf die Idee kommen könnte, dass ich irgendetwas von ihm wollte? Ich sag’s doch, kusstechnisch total verkorkst. Und was hatte mich so verkorkst?

Erstens: Ovid

 Ovid ist ein Römischer Dichter. Ich lernte ihn im Latein- Leistungskurs bei Herrn Meyerhoff kennen. Wir übersetzten Ovids Werk „Liebeskunst“. Darin heißt es:

„Vielleicht wird sie zuerst dagegen ankämpfen und Unverschämter sagen, sie wird aber im Kampf besiegt werden wollen.“

Aha! Ich lernte also neben Deklination und Konjugation lateinischer Wörter, sage als Frau „Nein“, wenn du „Ja“ meinst. Und die Jungs lernten, wenn sie „Nein“ sagt, heißt das möglicherweise „Ja“. Man merkt gleich Ovid lebte und schrieb sehr lange vor #MeToo.

Zweitens: Filmküsse

Filmküsse hatten mich ebenfalls verkorkst. Da, wo Mann Frau gierig an sich reißt, als wäre sie eine Packung Klopapier im ersten Corona-Lockdown.
„Küss mich wie im Film“, hätte ich am liebsten jedem Herzfrosch zugerufen, wenn ich mich getraut hätte. So wie Rhett Butler Scarlett O’Hara in „Vom Winde verweht“ oder wie Jack seine Rose in „Titanic“ oder eben wie Han Solo Prinzessin Leia. Das war überhaupt der romantischste Kuss von allen.

Prinzessin Leia schraubt im weißen Astronauten-Fummel am Bordsystem des Raumschiffes herum. Han Solo stürmt herein, die Leidenschaft eines brünstigen Wildschweins in den Augen und beugt sich über die Schneckenfrisur der Prinzessin. Prinzessin faucht ihn an wie eine Wildkatze. Daraufhin beteuert er, dass er ihr doch bloß helfen wollte, was natürlich glatt gelogen ist. Sodann hantiert Prinzessin weiter an der Maschinerie herum, flucht, weil ein störrischer Hebel klemmt und ihre Muskeln nicht Manns genug sind, ihn zu lösen (wir erkennen das Motiv — Frau, die Stärke demonstrieren möchte, ist eigentlich zu schwach — huh, da fahren die Männer voll drauf ab) — ratscht sich den Finger und Han Solo, was tut der? Nix. Von wegen Helfen! Schaut sie nur so an, als sei sie die Schaumkrone eines frisch gezapften Biers, und als sie sich in die Dreiviertel-Perspektive dreht, bekommt er ihre Finger zu fassen und streichelt sie, als wären sie ein schlafendes Angorahäschen, wobei sie, siehe oben, doch eigentlich eine Wildkatze ist.

Und sie sagt:

„Stop it.“

Was Han Solo ignoriert. Er küsst sie. Sie küssen sich. Und das Ganze endet mit Herzrasen, Feuerwerk. Im Kino werden Taschentücher gezückt und hier und da hört man sehnsüchtiges Seufzen. Interessant. Auch heute wäre das eindeutig ein #MeToo Moment. Er streichelt ihre Hände gegen ihren Willen. Oder etwa nicht?

Nein. Denn wir alle wissen, dass Prinzessin Leia Han Solo wollte und Han Solo wusste das, was die Prinzessin selbst allerhöchstens ahnte. Er wusste, wenn er ihr die Schokolade erst mal in den Mund geschoben hat, dann würde Leia nie wieder an einer anderen naschen wollen. 

Aber mein Schwarm Martin konnte damals natürlich nicht wissen, dass ihn mein damaliges “Ich” küssen wollte. Ich hatte Desinteresse simuliert, indem ich warmen Wachs zu kleinen Kügelchen formte. Und niemand, der bei Sinnen und einfühlsam ist, küsst ohne Start-Signal. Und das ist auch gut so. Denn seien wir ehrlich. Der Han Solo Kuss ist nur deswegen romantisch, weil Han Solo wusste, dass er Leias “Prinz” ist. Und warum wusste er das? Weil er Gedanken lesen konnte? Nein, weil er das Drehbuch gelesen hatte. Und schaut man sich die Kussszene zwischen Leia und Han Solo in Zeitlupe an, dann sieht man, dass kurz bevor sich die Lippen der beiden berühen, Leia ihre Lippen ein minibisschen Han Solos entgegenstreckt. So wie eine Schnecke ihre Fühler, bevor sie sich wieder ins Schneckenhaus zurückzieht. Und nur weil das Drehbuch Han Solo das verraten hat, war es ein Leichtes für ihn, so mutig zu sein.

Der preisgekrönte Podcast „Ist das normal“ von Zeit-Online rät, einfach zu fragen. Okay, wie könnte das ablaufen. Ich stelle mir das so vor:

Ein Junge und ein Mädchen stehen vor ihrer Haustür.
Sie: „Na dann, Gute Nacht.“
Er: „Darf ich dich küssen?“
Sie: „Wohin?“
Er: “Auf den Mund.”
Sie: „Mit oder ohne Zunge?“
Er: „Mit.“
Sie: „Ehrlich gesagt …“
Er: „Wir könnten uns auch auf 5 Zentimeter Eindringungstiefe einigen — in einen Quadranten für maximal 2 Minuten.“
Sie: „Nein.“

Worauf sie ungeküsst in der Tür verschwindet und sich nie wieder mit ihm hat verabreden wollen. Und wenn er nichts gelernt hat an diesem Abend, wird er vermutlich noch immer ungeküsst durch die Straßen streifen. Aha? Will das irgendwer so? Gefragt werden? Irgendwie schon, aber irgendwie nicht, also was denn jetzt? Mein Sohn sagt dazu jedenfalls: „Wenn du sie fragst, hast du es schon verkackt.“

Ich bin verwirrt. Aber neulich war Petra mit der Perlenkette bei mir zum Abendessen. Ich griff das 30 Jahre alte Thema wieder auf. Erneut kam sie mir mit den Worten „Keine Ahnung, es ist einfach immer so passiert.“
„Das ist doch Blödsinn“, sagte ich. Und tatsächlich, nur zwei Tage später bekam ich eine WhatsApp.

Petra: „Liebe Geli, ich bin heile wieder zu Hause. Ich habe viel übers Küssen nachgedacht (Küssendes Emoji). Der Blickkontakt ist die Brücke und wenn die Brücke nicht stabil ist, fühlt es sich übergriffig an. Also Geli, einfach nur gucken. Ansonsten Danke für versunkene Memories.“

Also, hätte ich damals einfach nur gucken müssen und auf keinen Fall weggucken dürfen? Oder weggucken und wieder gucken, aber in welchem Rhythmus? Hätte ich mit Blicken morsen sollen: K Ü S S M I C H?

Natürlich ist es viel mehr. Es ist das Hinsehen und noch wichtiger das Hinspüren. Es ist die Kommunikation, die ohne Worte stattfindet. Das ist das Gegenteil von „sich blind verstehen“. 60 % unserer Kommunikation findet nonverbal statt, alleine durch Körpersprache. 30 % teilen wir unser Innerstes über den Tonfall mit. Da bleiben nur 10 % für pure Worte. Es ist ein Tanz der Blicke, der Gesten, der leichten Berührungen. Es sind die Augen, die miteinander sprechen, die Hände, der Mund. Sich nähern, weicht der andere zurück, dann war es zu früh. Schaut sie weg, ist sie entweder schüchtern oder sie möchte nicht. Nimmt der andere den Blickkontakt wieder auf, und wenn ja wann? Nestelt sie an der Haustür umständlich mit dem Schlüssel herum, möchte sie euch küssen. Steckt sie den Schlüssel so sicher wie ein Hausmeister ins Schloss, will sie es nicht. Fummelt er im Auto lange mit dem Anschnallgurt herum und steigt nicht gleich aus, will er vermutlich küssen. Verlässt er fluchtartig das Auto, dann nicht. Es ist ein Hinspüren, es ist das Timing. Der Moment ist dann gekommen, wenn der Vibe stimmt. Der Vibe, in dem die elektronischen Teilchen zwischen euch hin- und herspringen, die Spannung so groß ist, dass man kaum noch atmen, sprechen, sich bewegen kann und das Herz so klopft, als hätte man 10 Dosen Red Bull geext. Und dann, ja dann ist es völlig egal, wer wen zuerst küsst. Der Mann die Frau, die Frau den Mann, der Mann den Mann oder die Frau die Frau oder wen auch immer sie möchten … Dann muss man nur bleiben, die Spannung aushalten und ein kleines bisschen mutig sein.

Der Podcast von Zeit-Online übrigens sehr zu empfehlen — allen, die noch nicht alles über Sex wissen, auch, wenn sie glauben, es zu wissen (https://www.zeit.de/serie/ist-das-normal?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F))

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Mama, du bist so cringe - Teil 1