Mama, du bist so “cringe”

Teil 1

Warum Eltern manchmal peinlich sind

von Angelika Glitz

Als ich ein Kind war, war meine Mutter für mich Supermama. Sie konnte die verrücktesten Sachen, zum Beispiel Schmerzen verschwinden lassen, nur durch einmal Pusten. Und wenn ich sagte „Mama unter meinem Bett hockt ein dreiköpfiges Monster“, sagte sie, „Kein Problem, Schätzchen“, krabbelte unter mein Bett und verjagte das Monster, — nur mit einer Haarbürste bewaffnet. Doch dann, von einem auf den anderen Tag, begann meine Mutter, merkwürdige Dinge zu tun. Sie tanzte wild auf einer meiner Partys einen Tanz, der hieß Boogie Woogie und sang dazu. Sie stellte komische Fragen, wenn meine Freundinnen zu Besuch waren, wie:

„Und der Dennis, ist der — etwa — „süß“?“ Und als ich mit meinem Schwarm auf dem Bett chillte, was damals „abhängen“ hieß, steckte sie den Kopf zur Tür herein und fragte: „Soll ich euch beiden Süßen einen Kakao kochen und ein bisschen Obst aufschneiden? Ich wünschte mir ein Loch tief bis nach Australien und ich schwor mir, später mal nicht so peinlich zu werden wie meine Mutter. Ja, ich würde eine coole Mutter werden. Und die wurde ich. Fand ich.

Ich zeigte meinen Kleinen, wie man im Meer bis zum Grund taucht, ohne Ohrenschmerzen zu bekommen und Fliegen mit der bloßen Hand fängt. An Kindergeburtstagen veranstaltete ich Zaubershows und Piratenschlachten und moderierte GNTM — als Heidi Klum verkleidet, mit blonder Langhaar-Perrücke und Micky Mouse-Stimme.

Doch dann stand ich eines Tages im Zimmer meines Sohnes.
Mein Sohn hockte mit zwei Freunden auf dem Bett. Den Boden, wenn man ihn hätte sehen können, war bevölkert von Schulsachen, Krimskrams, sauberer und schmutziger Wäsche. Plötzlich wusste ich auch, warum unser Geschirrschrank in der Küche gähnend leer war. Alle 14 Müslischüsseln befanden sich hier. Und ich ahnte, die Kruste in den gestapelten Schälchen konnte man nur beseitigen durch Sprengung.

Ehrlich, ich wollte voll gechillt säuseln: „Oh, wie gemütlich ihr es habt. Soll ich euch noch ein paar Chips bringen, damit ihr sie über dem Boden krümeln könnt. Und wenn ihr hier fertig seid, kein Problem, Jungs, macht im Wohnzimmer weiter.“

Doch in mir hatte ein tobendes Monster die Regie übernommen. Ich brüllte sehr originell: „Was ist das denn hier für Saustall!“ und stürmte in den Keller. Dort raffte ich alle Ikea-Taschen zusammen, die ich finden konnte, rannte zurück und schmiss hinein, was mir in die Finger kam. Ich füllte die Ikea-Taschen, alle sieben, dann sah das Kinderzimmer endlich aus, wie aus dem Heft „Sweet Home“. „So“, seufzte ich zufrieden. „Die kannst du mir jetzt abkaufen. Für 5 Euro pro Tasche!“

Mein Sohn tobte nicht. Er gab mir nicht 35 Euro. Er verdrehte die Augen und sagte: „Mama, du bist peinlich.“

„PEINLICH! Ich und peinlich!”
„Superpeinlich!“, sagte mein Sohn. „Und, wo wir schon mal dabei sind. Die Pausenbrote, die du mir immer machst— auch PEINLICH!”

“Meine Pausenbrote! Die mit den Gürkchen als Augen und der süßen Radieschen-Nase.”

Voll peinlich!

Ich fuhr zu meiner Mutter.

„Julius hat gesagt, ich bin voll peinlich. Kannst du dir das vorstellen? “ Ich schüttete meiner Mutter mein Herz aus: „Früher haben die Kinder mir alles erzählt. Jetzt erzählen sie es ihrem Handy. Google weiß mehr über sie als ich. Früher konnten sie ohne einen Kuss von mir nicht einschlafen. Heute kriege ich nur einen, wenn ich ihnen einen PSN-Gutschein schenke. Früher war ich die Sonne ihres Universums und heute bin ich nur noch ein einziges Wort: „PEINLICH“.

Meine Mutter schob eine Kaffeekapsel für mich in die Maschine und sagte:
„So sind halt Teenager. Oder wäre es dir lieber, wenn sie mit 43 noch zu Hause deinen Kühlschrank leer futtern und du nicht in die Badewanne kannst, weil sie bevölkert ist von ihren Gummienten.“
„Nein, das vielleicht nicht … aber …“

Da spürte ich es. Meine Kleinen nabelten sich ab. Zum zweiten Mal wurde die Nabelschnur durchtrennt — schnapp — und dieses Mal tat es weh. Dabei wollte ich so gerne weiter Teil ihrer Welt bleiben, noch ein Weilchen länger auf dem Thron ihres Universums als Sonne strahlen.

Also gab ich alles.
Ich begann, in denselben Läden zu shoppen wie meine Kinder, damit ich „fresh“ aussah. Ich sang im Auto laut die Songs von „Animal“ mit, oder wie hieß der Knasti doch gleich. Ich sagte Dinge wie: „Hey, wollen wir zusammen chillen und Serie schauen, das wird end-cool“. Den Freundinnen meiner Tochter drängte ich Gespräche über die süßen Jungs in der Klasse auf und gab coole “Jungs-Tipps”. Und wenn der Kellner meine Tochter fragte: “Was möchte denn deine Freundin trinken”, war der Tag für mich im Tütchen.

Kurz, ich stand knapp davor, die peinlichste Mutter aller Zeiten zu werden.

Zum Glück wurde ich es nicht. Meine Kinder haben das Schlimmste verhindert. Mit Engelsgeduld haben sie mir immer wieder den Spiegel vorgehalten. Gemeinsam sind wir gut durch diese Zeit gekommen. Also, sollte euch einiges des oben Gelesenen bekannt vorkommen, können euch vielleicht die Tipps helfen, die ihr in “Mama, du bist so cringe - Teil II” findet.

Und was ist aus den Ikea-Taschen geworden? Keine Ahnung. Sie sind verschwunden. Spurlos, bis heute. Ein Rätsel. Nun ja, vielleicht werden sie wieder auftauchen, wenn irgendwann mal jemand in unserem Garten nach Erdöl gräbt. Oder wenn sich unsere Kinder an sie erinnern, weil sie die Unordnung ihrer Kinder nicht mehr aushalten können.

By the way:

Das Problem hat sich irgendwie von selbst erledigt. Besuche ich heute die Kinder in ihren Wohnungen, sind ihre Zimmer so aufgeräumt, wie das Büro in unserem kleinstädtischen Bürgerbüro. Ohne ein Wort von mir und ohne blaue Ikea-Tasche. Dafür bekomme ich einen Anpfiff, wenn ich meine Schuhe nicht an ihrer Wohnungstür ausziehe.

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Mama, du bist so "cringe" - Teil II